Es war Sonntagabend als ich mit meiner Freundin zusammen saß und wir noch gemeinsam ein Glas Wein tranken. Sie war am Wochenende auf einem Seminar gewesen, in dem es um die Beziehung zum eigenen Hund ging.
Niedergeschlagen sah sie mich an. „Weißt du“, meinte sie, „eigentlich war das ein Entliebungsseminar. Ich bin hingefahren und fand meinen Hund total toll. Als ich zurückkam, war mir bewusst was für eine Baustelle dieser Hund eigentlich immer noch ist.
Er hat die ganze Zeit gefiept, auch als alle anderen Hunde entspannt waren, beobachtete er noch die Kaninchen auf dem Platz. Von der Hasenzugmaschiene war er gar nicht abrufbar – bei den Anderen hat es spätestens im zweiten Anlauf geklappt. Auf dem Spaziergang waren alle so sozial, nur meiner wollte permanent die anderen Hunde rammeln und hat total an der Leine gezogen. Alle hatten irgendwann ein Erfolgserlebnis – nur ich nicht. Jetzt arbeite ich seit 6 Jahren an allem und der Hund ist noch immer eine komplette Baustelle! Ich trete nur noch auf der Stelle und komme nicht weiter.“
Inhalt
Ich nippte an meinem Glas und dachte nach. Nein, der Hund ist keine Baustelle. Seit einigen Jahren macht sie viel mit ihren Hunden, arbeitet an den Problemen, kommt mit Rückschlägen klar, macht sich immer Gedanken über die Haltung und Erziehung und schaut mir regelmäßig auf die Finger. Die Fortschritte waren enorm. Von einem Hund der panisch weg rannte, wenn er andere Menschen, Autos und Busse sah, hin zu einem Hund der ohne Probleme, wenn auch mit gewisser Vorsicht an anderen Menschen vorbei gehen kann. Von einem Hund der panisch schrie, wenn sie nur auf die Toilette ging, zu einem Hund der völlig entspannt schläft, wenn er alleine ist. Von einem Hund der gerne andere Hunde fressen wollte, zu einem Hund der sogar an der Leine es zulässt, wenn andere Hunde ihre Nase in seinen Popo stecken.
„Dein Hund ist keine Baustelle“, meinte ich, „Du hast bereits sehr viel erreicht bei diesem Hund. Er hat seine Besonderheiten. Er ist nun mal ein nervöser Vierbeiner – er wird NIE ein entspannter Kerl sein, der in aufregenden Situationen völlig ruhig bleibt. Er hat Jagdtrieb, aber auch das hast du im Griff und arbeitest immer daran. Du hast einen tollen Hund. Du hast nun gesehen wo seine und deine Grenzen liegen und wo du ihn auch so annehmen musst, wie er ist. Dein Hund ist nicht perfekt – aber wer ist das schon? Ihr kommt im Alltag doch hervorragend miteinander aus!“ Das Glas war nun leer. Nachdenklich verabschiedeten wir uns voneinander.
Wie kann es passieren, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung derart weit auseinander liegen? Wie kommt es, dass man seinen Hund nur noch als Baustelle sieht und dann trotz Trainings das Gefühl hat nicht vorwärts zu kommen?
Idealisierte Vorstellung vs. Realität
Wenn ich an meine erste Hündin denke, fällt mir auf mit welch falschen Vorstellungen ich in die Hundehaltung gegangen bin. Ich wollte mit meinem Hund die Natur erleben. Durch Felder, Wiesen und Wälder streifen, die Vögel zwitschern hören und die Seele baumeln lassen. Ich wollte neue Leute kennen lernen, den Hunden beim spielen zusehen und sich einfach an dem neuen Partner Hund erfreuen. Was für eine romantische Vorstellung! Und dann bekam ich diese Hündin durch gewisse Umstände plötzlich in die Hand gedrückt. Sie zog an der Leine wie eine Verrückte. Entspanntes Spaziergehen? Fehlanzeige! Kaum machte man die Leine ab, war sie weg und auch wenn man sie angeleint hatte, konnte es passieren, dass sie einfach los stürmte (und das Frauchen damit voll in den Dreck flog), wenn sie etwas Jagdbares sah. Wie sollte ich da jemals die Natur genießen?
Am besten lief ich irgendwo her, wo möglichst keine Natur war. Nette Bekanntschaften konnte ich auch nicht machen, weil sie furchtbare Angst vor Artgenossen hatte und sich irgendwann dafür entschied lieber anzugreifen, als einzustecken. Von ihrer Idee ab und zu mal Menschen zu stellen mal ganz abgesehen. Meine Hündin machte mir mal eben die gesamte Vorstellung der Hundehaltung zunichte.
Mittlerweile kann ich darüber lachen. Früher war ich aber oft am Rande der Verzweiflung. So hatte ich mir das doch nicht vorgestellt! Aber so geht es vielen Hundehaltern. Jeder der sich einen Hund holt, hat bereits ein gewisses Bild im Kopf, wie er sich die Hundehaltung und den Alltag mit diesem Hund vorstellt. Dies kann ein träumerisch romantisches Bild sein wie bei mir. Es kann auch der perfekte Familienhund sein, der natürlich immer nur lieb ist und gegenüber den Kindern sich immer brav verhält. Es kann auch der Sporthund sein, der Prüfungen und Turniere laufen soll – möglichst mit Bestnote. Der angeschaffte Hund zeigt dann genau da Probleme wo er dem nicht mehr entspricht, denn überall dort wo der Hund nicht mehr dem „Idealbild“ entspricht, werden die Abweichungen wahrgenommen.
Zum Glück gibt es für all diese Probleme Hundetrainer und passende Methoden, um den Hund entsprechend des eigenen Ideals wieder zu modellieren. Das klappt in der Theorie ganz wunderbar und sicher lernt man Leute kennen, die behaupten, dass sich bei denen jegliches Problemverhalten in Luft aufgelöst hätte. Also arbeitet man an den Problemen. Man erzieht, konditioniert, sucht nach Lösungen, hofft, dass nun alles klappt und bangt darum, wieder einen Rückschritt im Training zu haben. Der Alltag mutiert dann häufig zum Letzteren: Training. Und während man den Hund trainiert, erkennt man plötzlich die Grenzen all der tollen Methoden und der begnadeten Trainer. Die erhoffte Veränderung bleibt aus und man fängt an zu zweifeln – an sich selbst und an dem Hund, bis man sich letzten Endes einfach nur verzweifelt fragt: „Warum habe ich mir nochmal einen Hund geholt?“
Das Internet mit all den Gruppen in den sozialen Netzwerken und all den Foren macht das Dilemma nicht besser. Dort finden sich Zuhauf Hundehalter, die alle einen perfekt hörenden und gut erzogenen Hund haben. Der Hund der sich aggressiv zeigt, wird schnell ein armes, ängstliches Tier, dem man dies unbedingt nehmen muss. Oder es wird gesagt, dass man dem nur mal zeigen muss, wer nun der Boss ist und alles würde rund laufen. Und schon wird man zum Versager 2.0, wenn all die Tipps und Ratschläge nicht fruchten und alle Anderen perfekte Vierbeiner haben.
Woher kommt denn das Idealbild was wir unseren Hunden überzustülpen versuchen?
Zum einen ist es die Gesellschaft, die einen möglichst lieben, netten, perfekt hörenden Vierbeiner sehen möchte. Der Umgang sollte möglichst nett sein – wie sieht das denn aus, wenn der Hund sich aggressiv oder unmanierlich zeigt? Und was sollen die Leute denken, wenn man da auch noch korrigierend eingreift? Zum anderen ist man es auch selbst. Erwartungen die man an den Hund stellt und auch an sich, verkomplizieren das noch weiter.
Manchmal ist es ratsam, wenn wir unseren Kopf mal frei machen von all dem und den Hund so sehen wie er ist. Es ist für einen Hund nicht selbstverständlich und schon gar nicht typisch sich mit jedem Hund zu verstehen. Es ist nicht natürlich, dass er nicht jagen geht. Und es ist auch nicht völlig normal, dass er jeden Menschen liebt. Hier gibt es Rassemerkmale, die Grenzen setzen. Kaum ein Jagdhund wird völlig desinteressiert an Kaninchen vorbei laufen. Kaum ein Herdenschutzhund wird völlig problemlos bei fremden Menschen sein. Hinzu kommt der Charakter des Hundes. Es gibt Hunde die neigen dazu, Ressourcen zu verteidigen. Es gibt Hunde die finden andere Menschen total toll, können aber auf Artgenossen gut verzichten. Es gibt Hunde die mit einer aufregenden Umgebung schlecht zu Recht kommen. Es gibt Hunde die sind sehr schnell nervös und aufgeregt und es gibt Hunde, die kann nichts aus der Bahn werfen.
Die ethische Frage
Anstatt einem Ideal hinterher zu hecheln, wäre es ratsamer den Hund anzunehmen wie er ist. Verbiegen lassen sich die wenigsten Hunde. Einen Hund derart zu verbiegen, dass er keine Persönlichkeit mehr hat und nur noch einem menschlichen Ideal entspricht, ist ethisch diskussionswürdig. Alle regen sich auf, wenn Hunde zu Recht gezüchtet werden mit all den Nebenwirkungen. Aber wenn man dem Hund eine Philosophie überstülpt und völlig natürliche und normale Verhaltensweisen für unnatürlich und abnormal erklärt, ist dies in Ordnung?
Probleme sind Potentiale
Die Erkenntnis, dass man womöglich ein völlig falsches Ideal hatte und man sich mit Dingen arrangieren muss, die man eigentlich blöd findet, kann durchaus schmerzhaft sein. Aber genau die bietet das Potential sich weiter zu entwickeln und eine neue, gesündere Einstellung zu dem Lebewesen zu haben, mit dem man sein Leben teilt.
Natürlich sollte man an Problemen auch arbeiten. Sie aber zu beseitigen ist nicht immer möglich. Sie händelbar zu machen, sollte eher die Devise sein. Ein Hund der keine anderen Hunde mag, sollte aber bei Hundesichtung abrufbar und an der Leine kontrollierbar sein. Ein Hund der keine Menschen mag, muss sich nicht von jedem anfassen lassen, aber er sollte nicht von selbst nach vorne gehen, wenn grade keiner etwas von ihm will. Dies ermöglicht es auch Prioritäten zu setzen. Man kann Persönlichkeiten nicht ändern, aber man kann den Umgang so gestalten, dass es keine Reibungen gibt. Selbstverständlich muss man beachten, dass ein Hund mit schwerer Verhaltensstörung ein beeinträchtigtes Leben hat. Ebenfalls darf der Hund nicht zur Gefahr für die Umwelt werden. Hier muss grundsätzlich auch gearbeitet werden unter der Berücksichtigung der Persönlichkeit des Hundes.
Aber auch Problemverhalten kann positive Effekte haben. Nachdem ich akzeptiert habe, dass meine Hündin jagt und dies immer auch tun wird, konnte ich die Natur mit anderen Augen sehen. Zuverlässig zeigte sie mir an, wo viel Wild unterwegs ist und auch was für Wild unterwegs ist. Plötzlich nahm ich wahr, dass es auf der Wiese nebenan vor Bodenbrütern nur so wimmelte. Dass Wildschweine am liebsten in Maisfelder stehen, hat sie mir auch klar gemacht. Ich ging von nun an mit offeneren Augen durch die Natur und erblickte so Wildtiere meist noch vor dem Hund. Mein Hund zeigte mir die Natur nun auf eine ganz neue Art und Weise. Hätte ich keinen jagenden Hund, wäre mir dieses Erlebnis vorenthalten geblieben.
Mein Hund zwang mich nun dazu mich mit ihm und seinem Wesen auseinanderzusetzen. Und jeder Hund der neu dazu kommt, bringt mich wieder an eine neue Grenze. Die zu erkennen, auszuloten, sich auszuprobieren und mit dem Hund schließlich zusammenzuwachsen, ist immer wieder eine großartige Erfahrung. Meine eigenen Hunde sind immer noch die besten Lehrmeister für mich.
Vermeintliches Problemverhalten lehrt Einen nicht nur viel über Hunde, es bietet sogar die Möglichkeit zur Charakterentwicklung. Ein aufgeregter Hund wird bei einem nervösen Menschen noch aufgeregter, der selber noch nervöser wird – ein Teufelskreis ist vorprogrammiert. Und so lernt man durch den Hund selbst in schwierigen Situationen ruhig zu bleiben. Unsichere Hundehalter lernen Sicherheit zu geben, weil der Hund sie benötigt. Und zurückhaltende Menschen lernen auch mal „Nein“ zu sagen. „Nein, der will nicht angefasst werden.“ „Nein, der möchte keinen Kontakt.“ Und einen herbei springen Tut-Nix zu verscheuchen benötigt Selbstsicherheit und Durchsetzungskraft. All diese Dinge bringen Einem auch im menschlichen Alltag viel.
Grenzen der Erziehung
Es ist dabei immer wichtig seine eigenen Grenzen zu erkennen. Es ist KEIN Armutszeugnis, wenn man einen schlechten Tag hat und man dann gewissen Situationen aus dem Weg geht. Es ist kein Armutszeugnis, wenn der Hund sich mal daneben benimmt. Es ist ein Hund und kein Roboter – genauso wenig wie wir.
Dementsprechend sollten wir uns die Frage stellen: Was ist machbar für mich, meinen Hund, meine Hundehaltung und was ist mir besonders wichtig? Überall werden dem Grenzen gesetzt. Die Umgebung setzt Grenzen und zeigt Prioritäten. Jemand der auf dem Land wohnt, hat gezwungenermaßen andere Ansprüche als jemand der städtisch wohnt. Auch der Hund setzt Einem Grenzen. Mit einem Jagdhund ist nicht immer überall Freilauf möglich und wenn, muss man immer auch mit allen Sinnen bei dem Hund sein. Aber auch selbst hat man eigene Grenzen. Man ist nicht immer der Ruhepol für den Hund, wenn man selbst ein temperamentvoller Mensch ist. Auch dies ist völlig in Ordnung.
Und bei all den Aspekten des vermeintlich Negativen, sollte man das Positive nicht vergessen. Dann mag der Hund halt nicht jeden anderen Hund – aber dafür ist er super abrufbar und jagt nicht. Dann mag der Hund halt nicht alle Menschen, aber er findet andere Hunde ganz toll und man kann so auch mit anderen Hundehaltern spazieren gehen. Dann ist der Hund halt schnell aufgeregt, dafür ist er sobald man mit ihm etwas machen möchte sofort dabei und lernt schnell. Es gibt so viele positive Momente, die wir viel zu oft als Selbstverständlichkeit hinnehmen, die aber keine sind. Wenn man in sich geht, erkennt man doch was für einen tollen Hund man vor sich hat.
Persönlichkeit als Chance
Letzten Endes geht es darum zu einem entspannten Umgang mit dem Hund zu kommen, falsche Vorstellungen abzulegen und vom Perfektionismus Abstand zu nehmen. Der Reiz der Hundehaltung liegt nicht darin, nebeneinander her zu leben und fröhlich in der Natur zu schlendern – der Reiz der Hundehaltung besteht darin eine kleine Hundepersönlichkeit aufzunehmen und diese ins Leben zu integrieren. Der Hund ist kein weißes Blatt, dass man beschreiben kann wie man möchte. Er ist eine eigenständige Persönlichkeit! Dies wahrzunehmen, bietet Einem auch die Möglichkeit sich selbst zu entdecken. Seine eigenen Schwächen auch zu sehen und zu akzeptieren.
Ecken und Kanten machen unsere Persönlichkeit aus. Wie langweilig wäre es doch, wenn alle gleich wären. Und diese Ecken und Kanten finden wir auch bei unseren Hunden und dies macht im Zusammenspiel schließlich die Beziehung zu unseren Vierbeinern aus. DAS ist Individualität und Einzigartigkeit. Dies in der Beziehung zum Hund zu entdecken, ist eine spannende Sache. Wir alle sollten dankbar sein für die Vielfalt an Hunden und die wichtigen Lehren, die uns unsere Hunde erteilen.
Autorin: Nina Dany
Danke. Der Artikel spricht mir in so vielen Punkten aus der Seele.
Ein wunderschöner Artikel. Der spricht mir aus der Seele. Danke :)
Danke für diesen tollen Beitrag. Er ist genauso wie ich denke und fühle aber wie ich ihn nie so toll in Worte fassen könnte wie Du. Wunderschön geschrieben.