Vorletzter Tag vor Weihnachten
Endlich ist er aus dem Haus! Je älter er wird, desto länger braucht er! Und dann kommt er mindestens noch ein Mal zurück, weil er etwas vergessen hat! Irgendwann vergisst er glatt seinen Kopf! Aber seinen Schädel trage ich ihm garantiert nicht hinterher, es reicht mir schon, wenn ich einem Stock nachrennen muss! Wofür hält er mich? Immerhin bin ich eine Sie mit Stammbaum, edelstes blaues Prager Rattler Blut! Mein direkter Vorfahre Frantisek Wuffus jagte noch Ratten mit dem böhmischen Hofstaat und eine seiner Favoritinnen – ich muss zugeben, sein Lebenswandel war etwas unstet – bekam von ihm die größte Ratte vor die Pfoten gelegt, die man in der damaligen Rattlerwelt je gesehen hatte! Da läuft man nicht gleich jedem Stecken hinterher! Aber der Arzt hat ja unlängst gesagt, dass ich mein Herrchen im Training halten muss, sonst wird es zu fett von all dem Fernsehen und Kekse futtern, Zuerst habe ich auch mitgeschaut, aber Krimis schlagen mir auf den empfindlichen Magen. Von den Keksen ganz zu schweigen, die bringt immer die Nachbarin von oberhalb. Unbemannt und ziemlich scharf auf mein Herrchen. „Rattenscharf“, wie wir Prager Rattler gerne sagen. Die Kekse hingegen sind lau, geschmacklos, eigentlich widerlich. Warum er sie trotzdem in sich hineinstopft, weiß ich nicht. Wohl eine Ersatzhandlung, aber darüber wissen wir Hunde nichts, wir studieren nämlich nicht, wir handeln. Mein Herrchen aber bekommt keine der zarten Andeutungen seiner Nachbarin mit! Wahrscheinlich reagiert er nicht einmal, wenn sie ihm ins Wadel beißt! Ein Techniker halt, einer, der in HTML denkt – bald sogar in HTML5. Aber auch davon verstehen Prager Rattler nichts, wie ich nach der Lektüre diverser Hundebücher herausgefunden habe: Wir sind temperamentvoll, beweglich, aufmerksam, spielfreudig und – man lese und staune – sehr gutmütig. Von klug ist nirgends die Rede.
Aber egal, Hauptsache mein Herrchen ist mal kurz weg. „Dosenöffner“ sage ich nicht zu ihm, diese Werbelinie fahren die Katzen und man sieht ja, wohin sie das gebracht hat. Ich beschäftige mich lieber mit den wirklich wichtigen Dingen des Lebens. Als Hund hat man heutzutage, in dieser multimedialen Welt voller Ablenkungen ohnehin keine Ruhe mehr, um seinen gepflegten Hobbys nachzugehen. Wenigstens habe ich einen Kugelschreiber gefunden, mein Herrchen schreibt ja meistens am Computer, aber wenn ich das mache, fällt es ihm garantiert auf und außerdem hoffe ich ja, dass er meine Schrift nicht lesen kann, wenn er mein Tagebuch finden sollte. Sonst ist es aus mit meinem seidigen Hundebettchen, leckeren Sheba-Portionen – ja, genau, warum sollen nur Katzen das Beste fressen – Streicheleinheiten und Co. Und vor allem mit meiner Freiheit, die ich als Lady, die über viele Verehrer verfügt, heimlich, ungestört und zugegebenermaßen auch ungehemmt auskosten möchte. Letzten Sonntag etwa, wir spazierten gerade durch den Park, kam uns eine Frau entgegen, die hatte einen Rehpinscher an der Leine. Ein Eduard, wie er mir schon von Weitem zurief. Immerhin ein königlicher Name, aber als er auf meine Kehrseite zustürmte und mich dermaßen zu beschnüffeln begann, dass es schon unschicklich wurde, wusste ich sofort, dass er kein Umgang für mich ist. Noch dazu lachte er unmäßig über meinen Namen, er fand ihn nicht nur generell komisch sondern auch für ein Weibchen ziemlich unpassend. Womit er ja recht hat, aber mein Herrchen hat nun einmal eine Schwäche für dieses ausgestorbene Federvieh und daher … Jedenfalls schade, Eduard sah wirklich gut aus! Wobei ich natürlich nur auf innere Werte achtem, aber .. verflixt, das Herrchen kommt zurück, jetzt schon?! Adieu, mein liebes Tagebuch … ich …
Letzter Tag vor Weihnachten
Nun steht er da, der Weihnachtsbaum. Als mein Herrchen gestern mit diesem Prachtstück zur Tür hereinkam, begrüßte ich ihn so überschwänglich wie es sich gehört und bekam tatsächlich nicht nur zusätzliche Streicheleinheiten, sondern auch einen kleinen Leckerbissen ab. Trotzdem – er war zu kurz weggeblieben, ich war ja gerade im schönsten Schreiben! Heute hat er den Baum geschmückt und die Nachbarin war auch wieder da. Mit der nächsten Ration Kekse und wenn sie am 25. weggefuttert sind, möchte sie noch welche vorbeibringen, hat sie gesagt.
Wenn mein Herrchen platzt, hat sie auch nichts mehr von ihm, aber so weit denken die Menschenfrauen nicht. Zuerst will sie ihn mal schnappen und das geht wohl am besten, wenn er nicht mehr aus dem Stuhl hochkommt, weil er feststeckt. Aber mir kann es ja egal sein, im Notfall öffne ich meine Futterdosen selbst. Jetzt ist das Herrchen übrigens gerade wieder weg, liebes Tagebuch, und ich hoffe ein bisschen länger als gestern, denn er will ein Geschenk für seine Mutter kaufen. Die rückt uns morgen nämlich auch noch auf die Pelle, beleidigt mit ihrem widerlichen Parfum meine adelige Nase und redet in einem fort. Sonst ist sie ja ganz nett. Hoffentlich schenkt er ihr heuer ein gutes Parfum! Aber über ihr 4711 lässt sie ohnehin nichts kommen, damit hat sich schon ihre Großmutter beduftet und die hatte Verehrer – du meine Güte! Heuer hat sich mein Herrchen übrigens eine ganz besondere Weihnachtsdekoration einfallen lassen: bunte Kugeln, Schokolade und kleine Würstchen – letztere sind für mich. Wenn er nicht die Tür zugemacht hätte, wäre ich ohnehin schon im Wohnzimmer und hätte mir eines geschnappt. So aber komme ich nicht an den Baum, aber der verlockende Geruch kitzelt meine Nase …
Weihnachten
Das war ein Tag! In der Früh fing alles noch ganz harmlos an, aber dann …! Mein Herrchen und seine Mutter legten die Geschenke unter den Baum. Dabei losen sie immer, wer zuerst ins Wohnzimmer gehen muss, denn der, der als Zweiter geht, kann die Packerl des anderen ansehen, anfassen, ja sogar schütteln … Die alte Dame zog das große Los, sie durfte „schnüffeln“. Da sie aber fast immer zum Zug kommt frage ich mich, ob mein Herrchen nicht etwa beim Losen schummelt, um ihr eine Freude zu machen. Mich lassen sie erst ins Zimmer, wenn die Kerzen angezündet sind. Dann wird gesungen, so herzerweichend, dass ich mich nie enthalten kann, mitzujaulen. Mein Herrchen lacht immer, aber seine alte Frau Mama findet das gar nicht lustig, sie findet hündischen Gesang blasphemisch! Wobei sie natürlich glaubt, ich würde dieses Wort nicht verstehen.
Wenn die wüsste! Heuer duftete der Baum für mich besonders köstlich, denn er war ja mit Würstchen behangen. Schon beim Singen stach mir der verlockende Duft in die Nase. Als dann mein Herrchen die Geschenke zu verteilen begann, gab es kein Halten mehr: Mit einem Satz schnappte ich mir das nächstbeste Würstchen, natürlich hatte ich es schon vorher ins Auge gefasst, und zog mit aller Kraft daran. Anscheinend erwischte ich so etwas wie eine tragende Mauer des Christbaums, oder einen tragenden Punkt, jedenfalls kippte er vornüber und begrub mein Herrchen unter sich. Seine Mutter konnte gerade noch das Päckchen retten, das er ihr hinhielt. Na ja, es ist nicht so viel passiert, mein Herrchen kroch sofort unter dem Baum hervor und löschte den einen oder anderen kleinen Brandherd, den die Kerzen lustig unterhielten. Ich aber wurde in die Küche gesperrt und da sitze ich nun. Dabei bin ich unschuldig, bei meiner Rattlerehre! Wie soll ich denn wissen, dass der Weihnachtsbaum kippen kann, ich bin doch ein Fliegengewicht! Wahrscheinlich stand er nicht richtig und diese Idee mit den Würstchen hatten ja auch die Menschen! Aber wer ist wieder einmal schuld? Der Hund! Na ja, macht nichts, ich probiere derweil etwas von dieser köstlichen kalten Platte, die auf dem Esstisch steht. Ist wohl nicht für mich gedacht, aber wenn ich schon keine Würstchen bekomme, lasse ich mir Schinken und Pasteten schmecken. Fröhliche Weihnachten, liebes Tagebuch! Mhmmmm ….
Das Titelbild wurde von Zorah Kuchling, der zwölfjährigen Tochter von Mirella Kuchling, gezeichnet.
Mit 13 Jahren schrieb Mirella Kuchling„Die Ratte Willibald“ für die Kinderseite der Kleinen Zeitung. Auf Umwegen kehrte sie 1998 zur Schreiberzunft zurück. Heute ist sie in der PR-Redaktion der Kleinen Zeitung tätig. 2005 erschien in der Steirischen Verlagsgesellschaft ihr erstes, literarhistorisches Buch “Literarische Spaziergänge durch Graz” Sechs Jahre später veröffentlichte Mirella Kuchling in der Grazer edition keiper ihren ersten Roman, „Frauenzimmer unmöbliert“, der gleich zum Verlagsbestseller des Jahres avancierte. 2012 folgte mit „Frauenzimmer teilmöbliert“ der zweite Band der Trilogie. „Frauenzimmer vollmöbliert“ gibt es ab Herbst 2013. Zahlreiche Lesungen, darunter 2012 auch auf der Wiener Buchmesse.
Die Bücher von Mirella Kuchling sind unter anderen auf Amazon erhältlich.