Ein Tierarztbesuch ist selten ein Grund zur Freude. Neben der Behandlung des Vierbeiners und drohenden Schock-Diagnosen sind es auch die anderen Hundebesitzer im Wartezimmer, die mich stressen.
Da darf Paulchen an ausgefahrener Flexi schon mal das Wartezimmer erkunden und der Hasso dem Sammy „guten Tag“ sagen, während die Lissy mit der Stella in der Mitte des Zimmers spielt und ein kleiner Dackel in höchsten Tönen das Treiben ankläfft. Ich denke bei Arztpraxen – anscheinend ganz anders als andere Leute – nicht an eine Hundewiese, sondern an mögliche Keimschleudern. Zudem stresst mich so ein Treiben enorm und vor einer Behandlung brauche ich Ruhe – für mich und meinen Hund.
Mein Hund findet so einen Rummel übrigens auch nicht besonders gut. Er kann Hunde, die ihm in angeleinten Zustand in den Popo kriechen wollen, überhaupt nicht leiden. Normalerweise lasse ich ihn deswegen vor dem Termin im Auto und hole ihn erst, wenn wir dran sind. Dieses Mal habe ich es anders gehandhabt, weil das Wartezimmer leer war. Selbstverständlich trug mein Hund seinen Maulkorb, der zuverlässig verhindert, dass Uschis ihre Fiffis mal „guten Tag“ sagen lassen.
Die (zweifelhafte) Begegnung
Schmerzgeplagt und mit Fieber lag er platt auf dem Boden. Andere Hunde beachtete er gar nicht groß. Viel zu erschöpft war er. Und dann kam sie: Eine groß gewachsene Mali-Hündin. Hinter ihr ein ebenfalls groß gewachsener Mann, der mich stark an die Hundetrainer von den Vereinsplätzen erinnerte, die ich im Laufe meiner Hundehaltung besucht habe. Fiepend, hektisch hin und her rennend betrat die Hündin den Raum. Gehalten wurde sie von einer feinen Schnur, die direkt hinter den Ohren anlag. Dank dieses Endloswürgers konnte Herrchen sie trotz Aufregung gut halten. Sie tanzte am Schnürchen auf und ab, krabbelte auf den Schoß des Besitzers, sprang wieder runter, fiepte, krabbelte drauf, sprang runter, fiepte, kreiselte, fiepte… Ich wartete nur noch auf den Ball, den Herrchen gleich aus der Tasche springen lassen würde. Dies passierte nicht. Er nahm allerdings auch sonst keinerlei Einfluss auf seinen Hund. Das fand mein kränkelnder Hund dafür gar nicht so toll. Ziemlich genervt reagierte er auf die überdrehte Hündin und machte seinem Unmut laut Luft. Natürlich brach ich es ab, beruhigte ihn und hielt ihn bei mir.
Der Mann starrte uns an.
„Macht der das immer so?“
„Naja, der reagiert halt auf dynamische Hunde. Außerdem hat er Schmerzen – da kann man auch mal schlechte Laune haben.“
„Aha -wie alt isser denn?“
„Der ist 6 Jahre alt.“
„Aha – von Anfang an da?“
„Ja, den hab ich von Anfang an.“
„Und dann macht er immer noch sowas?“
Ich verkniff mir eine Antwort auf diese (rhetorische) Frage. Ich hatte mich schon bewusst zurück gehalten, damit mir kein „der reagiert halt auf unerzogene Hunde“ raus rutschte.
Aggressionsverhalten beim Hund – ein No Go?
Die Situation hing mir nach. Noch auf der Rückfahrt grübelte ich über seine Aussage. Sollte es ein versteckter Vorwurf sein? War ich vielleicht auch voreingenommen bei jemandem, der mir leider alle Klischees bestätigte? Wahrscheinlich von beidem etwas. Sehr viel interessanter empfand ich die Einstellung, die hinter dieser Aussage stand: Ein Hund der von Anfang an da ist, darf keine Aggressionen zeigen. Selbst wenn er Schmerzen hat, scheint dies nicht akzeptabel zu sein.
Vor kurzem las ich bei Facebook den Post einer Trainerin. Sie suchte ein neues Zuhause für ihren Hund. Dieser verstand sich nicht gut mit den vorhandenen Hunden und das Zusammenleben mit dem menschlichen Nachwuchs wurde für ihn immer stressiger. Ein Hund, der für sie händelbar war, aber der es aufgrund seiner Persönlichkeit in einem ruhigeren Zuhause besser haben könnte – so war ihre Intention. Die Kommentare dazu waren aber ziemlich hässlich. Als Hundetrainerin habe sie ja einiges falsch gemacht, wenn der Hund „noch immer so wäre“. Mit diesen „Baustellen“ würde er ja auch nie ein neues Zuhause finden. Und dass der Hund und auch andere Hunde von ihr auf einem Foto einen Maulkorb trugen, wurde ebenfalls als Beweis für ihre Inkompetenz genommen. Ihr Vergehen war schlicht, dass sie den Hund ehrlich beschrieb, sein mögliches Potential deutlich benannte und ein neues Zuhause für ihn suchte, was besser für ihn passte.
Das „Böse“ im Hund
Wenn ich Kunden habe, die aufgrund von Aggressionsverhalten in mein Training kommen, kommt häufig „der ist aber gar nicht aggressiv“. Wenn es vorher Beißvorfälle gab, ist das größte Problem, dass andere Leute den eigenen Hund für aggressiv halten könnten. „Aggressiv“ steht dabei für etwas, was der Hund nicht sein kann und nicht sein darf. „Aggressiv“ bedeutet gestört. „Aggressiv“ sind Monster aus Horrorfilmen und Massenmörder. „Aggressiv“ ist aber nicht der Hund, der mit einem abends auf der Couch kuschelt – das würde er ja schließlich nicht machen, wenn er wirklich aggressiv wäre…
Ich glaube mittlerweile, dass viele Menschen eigentlich gar keinen Hund wollen. Sie haben eine Vorstellung von „Hund“, die sich nur begrenzt mit der Realität deckt. Einerseits wird der Hund vermenschlicht. Andererseits wird ihm eine völlig romantisierte Idee vom Hundsein übergestülpt – denn das, was wir uns Menschen zugestehen, wird dem Hund nicht zugestanden.
Aggressionsverhalten beim Menschen…
Wenn der Mensch auf der Autobahn fährt und mit 150km/h von einem BMW-Fahrer bedrängt wird, wird diesem genüsslich der Mittelfinger gezeigt. Männer, die Frauen ungefragt an den Hintern grapschen, bekommen herzhaft eine geknallt. Die völlig überdrehte Freundin, die mit ihrem Redeschwall nur noch nervt, wird mit deutlichen Worten ausgebremst. Dem Chef wird in der Gehaltsverhandlung die Pistole auf die Brust gesetzt – „bekomme ich nicht mehr Geld, verlieren Sie eine Mitarbeiterin“. Der Partner darf sich einiges anhören, wenn er wieder mal den Abwasch stehen lässt oder gar den Jahrestag vergisst. Kinder, die auf Erziehungsversuche mit „du hast mir gar nix zu sagen“ reagieren, bekommen ordentlich die Leviten gelesen. Und auf dem Fußballfeld wird geschimpft, wenn der Schiedsrichter eine Fehlentscheidung trifft. Während wir unser Aggressionsverhalten ausleben in mal mehr und mal weniger angemessener Art und Weise, wird dies Hunden nicht zugestanden.
… und bei Hunden
Auf der Hundewiese wird die Hündin ermahnt, die sich gegen aufdringliche Verehrer zur Wehr setzt. Der ältere Hund, der von einem jungen Hund übergriffig in die Ecke gedrängt wird, darf sich nicht wehren, denn „der Kleine will doch nur spielen“. Das Verteidigen von Fressbarem wird als schlimm empfunden, denn der Hund „muss sich von jedem alles abnehmen lassen“. Und andere Hunde ungefragt anfassen, ist auch völlig in Ordnung, denn streicheln lassen „müssen“ die sich ja. Dass man auch einfach mehrere Hunde dazu verdonnert zusammen zu leben, ohne dass man sie danach fragt, ob sie ihr ganzes Leben mit diesen Artgenossen verbringen möchten, ist auch völlig in Ordnung.
Ist der Hund der bessere Mensch?
Hunde sind Hunde und sie kommunizieren wie diese. Aggressionsverhalten ist Normalverhalten und wichtiger Bestandteil der hündischen Kommunikation. Hunde handeln dabei aufgrund ihrer Art und ihres Wesens – ganz genau so wie wir. Während der eine aus der Haut fährt, weil ihn jemand auf der Autobahn bedrängt, lässt der andere sich davon nicht aus der Ruhe bringen, was allerdings nicht bedeutet, dass er in anderen Situationen genauso ruhig bleibt.
Aggressionsverhalten als Kommunikation
Die wunderbare Dorit Feddersen-Petersen hat es kurz und knackig gesagt. Aggressionen sind nicht nur ein unverzichtbarer (!) Bestandteil des Sozialverhaltens, sondern auch ein Regulativ für das Zusammenleben, für das Zusammenarbeiten und das Streiten um Ressourcen und Rahmenbedingungen. (vgl. Feddersen-Petersen (2004): Hundepsychologie. S.433) Sprich: Um mit jemand anderen zusammenzuleben, ist es wichtig Grenzen abzustecken. Diese Grenzen geben den Rahmen der Beziehung vor. Für uns Menschen ist es völlig normal, dass wir lernen, dass wir anderen Menschen nicht einfach etwas wegnehmen dürfen, nur weil uns danach ist. Wir haben gelernt unser Verhalten auf das Gegenüber anzupassen und nicht Wildfremden mit Umarmungen zu begegnen. Wir haben gelernt uns selber vor Übergriffigkeiten zu schützen, indem wir uns entsprechend äußern. Wenn jemand unsere Grenzen missachtet, muss dieser in der Regel mit irgendeiner Form von Aggressionsverhalten rechnen.
Während wir es uns entsprechend vorbehalten im Zweifel mit Aggressionen zu reagieren, wenn unsere Grenzen nicht respektiert werden, müssen unsere Hunde oft so einige Grenzverletzungen klaglos über sich ergehen lassen. Der Hund soll sämtliche Übergriffe auf ihn tolerieren und diesen möglichst auch noch freundlich begegnen. Und wehe er tut dies nicht – dann ist er gestört, hatte eine schlechte Kindheit oder irgendein traumatisches Erlebnis, was ihn bis zu seinem Lebensende prägt. Dass der Hund vielleicht einfach nur Hund ist, scheint völlig abwegig.
Der Mensch hat immer Schuld – oder?
Es ist geradezu pervers davon auszugehen, dass ein Hund ein weißes Blatt Papier ist, das man beliebig beschriften kann. Nein, nicht alles macht der Mensch! Hunde bringen Persönlichkeit und auch rassebedingte genetische Dispositionen mit, die sich nicht mal eben wegerziehen lassen. Manches kann man in geregelte Bahnen lenken. Manch blöde Idee kann man bereits im Ansatz ersticken. Aber das, was den Hund ausmacht, wird man nicht auslöschen können. Und dies können auch Hundetrainer nicht.
Hunde besitzen keine Moral in unserem Sinne. Dementsprechend können sie auch nicht „böse“ sein. Ein Hund, der Aggressionsverhalten zeigt, tut dies nicht 24 Stunden am Tag. Er zeigt dies in bestimmten Situationen. Den aggressiven Hund gibt es nicht. Und die Gründe warum der Hund sich aggressiv verhält, können vielschichtig sein.
Hündische Diskussionskultur
Mein Hund möchte keine aufgeregten Schnösel in seinem Hintern haben. Wenn er seine Ruhe haben will, schätzt er es auch nicht, dass da jemand große Unruhe rein bringt. Er bereitet den Hunden keinen Tee zu und eröffnet einen Gesprächskreis. Er sagt deutlich, kurz und knapp, was er von solch einem Gebaren hält – und er tut dies eben wie ein Hund. Und obwohl er sich hündisch normal verhält, denken viele, dass er nicht normal wäre. Es ist aber durchaus normal für Hunde zu streiten, Raum, Ruhe und Ressourcen zu beanspruchen und auch nicht jeden Artgenossen voll knorke zu finden. Vor allem wenn dieser sich respektlos verhält und womöglich noch die anderen Weiber in der Nachbarschaft klar machen könnte, die man selber gerne hätte.
Hunde sind eben keine immer friedlichen, harmoniesüchtigen, elfengleichen Wesen. Ein Hund, der Aggressionsverhalten zeigt, ist nicht per se unglücklich. Er hat auch nicht immer Angst. Er zeigt einfach völlig normale Kommunikation. Dies ist abhängig von der Persönlichkeit, die sich aus Genetik und Umwelteinflüssen formt, sowie situativen Zuständen, als auch rassebedingten Dispositionen. Dass ein Meutehund seinen Artgenossen gegenüber in der Regel aggressionslos ist, liegt auch daran, dass er darauf selektiert wurde. Wer einen Schäferhund hält, wird oft andere Erfahrungen machen können.
Die Härtefälle
Schwierig wird es, wenn Aggressionsverhalten nicht mehr angemessen gezeigt wird. Hier sind wirkliche Kenner gefragt. Erfahrungsgemäß ist dies ein Thema, womit viele „Hundler“ ihr Ego schmeicheln. „Der ist so aggro und ich hab ihn im Griff.“ Damit gehen dann auch die „tollsten“ Ratschläge einher. Da ist von der Tierschutzuschi mit dem gesäuselten „der braucht ganz viel Liiiiiebe“ bis hin zum Vereinsplatztyp „der muss nur mal wissen, wer der Herr im Haus ist!“ alles dabei. Es ist alles nicht hilfreich. Und nur, weil man mal einen Hund hatte, der am Futter geknurrt hat, heißt es nicht, dass man einen Hund in den Griff bekommen kann, der hemmungslos seinen Besitzer attackiert, der ihn aus dem Auto holen will. Wer sich daran aufgeilt besonders „krasse“ Hunde zu haben und zu trainieren, ist kaum die richtige Anlaufstelle. Im Gegenteil: Hier ist besonders viel Einfühlungsvermögen, Erfahrung und Wissen von Nöten.
Die meisten Hunde verhalten sich aber ganz adäquat. Es sind oft die Besitzer, die mit diesem Aggressionsverhalten nicht umgehen können, weil sie ein ganz anderes Bild von Hunden haben. Nicht jeder Hund schätzt das Kaffeekränzchen auf der Hundewiese. Nicht jeder Hund mag es von Fremden umarmt zu werden.
Persönlichkeit und Bedürfnisse von Hunden
Unsere Hunde sind so unglaublich anpassungsfähig. Sie halten es aus mitgenommen zu werden, an der Leine zu laufen und das ganze Leben über fremdbestimmt zu werden. Ich finde, wir sind es unseren Vierbeinern schuldig mal auf sie zu schauen. Dazu gehört auch sich mit ihrem Verhalten und ihren Bedürfnissen zu befassen, genauso wie ihre Persönlichkeit zu achten und zu berücksichtigen.
Aus einem misstrauischen Streuner aus Rumänien macht man in den seltensten Fällen einen menschenliebenden Hund, der jeden Fremden freudig begrüßt. Aus einem Rüden, der mit der Pubertät feststellt, dass er andere Rüden nicht mehr als Kumpels sieht, sondern als Konkurrenz, macht man in den seltensten Fällen einen Hund für die Hundewiese.
Erziehung – Möglichkeiten und Grenzen
Selbstverständlich sollte auf das Aggressionsverhalten auch Einfluss genommen werden. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass man dem Hund Zuständigkeiten entzieht, Schutz bietet und/oder ihm ein Alternativverhalten aufzeigt. Kein Hund muss sich an der Leine beschnuppern lassen, aber er kann lernen, dass er nicht aggressiv auf Artgenossen reagieren muss, weil der Mensch da ist, der die ihm andere Hunde vom Leib hält. Auch ein Hund, der sich gerne mal mit seinen Geschlechtsgenossen prügelt, kann lernen, dass es auch andere Wege gibt Konflikte zu lösen – und sei es, weil er diesen entsprechend aus dem Weg geht. Mit ihnen leben, wird er trotzdem nicht unbedingt wollen. Und auch der misstrauische Streuner kann lernen, dass er bei seinem Menschen Schutz erfährt und er sich gar nicht von anderen Menschen anfassen lassen muss. Und überall wo dies nicht möglich ist, weil im Alltag eben doch die Tut-Nixe auf einen zugestürmt kommen oder Menschen ungefragt den Hund antatschen, hilft es schlicht den Hund zu sichern – der Maulkorb ist ein tolles Hilfsmittel, der gut beigebracht und gut sitzend den Hund auch überhaupt nicht stört.
Persönlichkeit, Bedürfnisse und das Wesen des Hundes lassen sich nicht weg erziehen. Wer sich damit nicht auseinandersetzen möchte, tut gut daran sich einen Stoffhund zuzulegen. Wer Menschen dafür verurteilt, dass sie ihren Hund realistisch einschätzen und sichern, sollte sich überlegen, ob das eigene Bild des Hundes nicht möglicherweise kilometerweit an dem vorbei geht, was ein Hund wirklich ist.
Autorin: Nina Dany
Habe schon Ewigkeit nicht so gute Sachlichen Bericht gelesen ?Da könnten sich viele Hundeschulen/Trainer eine Scheibe davon abschneiden!
Sehr guter Bericht, ich hätte ihn gerne in Englisch für einige “Freunde“
Das trifft´s auf den Punkt. Super geschrieben! Danke. Hoffentlich lesen viiiiele Menschen diesen Artikel.
Trifft den Nagel auf den Kopf! Ein Plädoyer für das wahre Wesen eines Hundes, danke!
Hallo Nina, toller Artikel, der mich auch ein bisschen wachgerüttelt hat. Mein Aussie muss kein “ Spielwiesen- tutnix -Hund „werden…. mein Goldie war das von Anfang an, ganz ohne dass ich es wollte.. So ist das eben. Obwohl mein Aussie noch nie gebissen hat würde ich das Maulkorbtraining gern in Angriff nehmen, kannst du mir da eine Marke empfehlen?