Der Gelbhund – Letzter Teil der Geschichte von Gerhard Dinauer. Zum Nachlesen Teil 1, Teil 2 und Teil 3
Am Tag kam Santiago nicht oder ich hörte ihn nicht, als mich die unerträgliche Hitze des Tages in schwitzender Bewusstlosigkeit hielt. Ich weiß aber, dass Santiago am vierten Tag meines Martyriums plötzlich vor mir stand.
„Amigo, bis du krank?“
„Nein, Santiago, ich kann nicht länger hier bleiben. Ich ziehe in ein Hotel.“
„Nicht Hotel, Amigo. Gibt kein Hotel in San Pedro. Was los?“
Ich erzählte. Alles. Alles über den Gelbhund, alles über die Hähne, alles über das Heulen, Bellen, Krähen. Alles über die Hitze. Als ich alles vor ihm ausgeschüttet hatte, wandte sich Santiago ab. Er weinte.
„Amigo, schluchzte er, du mein Volke nicht liebst, du unsere Hunden nicht magst, du unsere Hahnen hasst. Aber unsere Mensche armen, nur haben Hunden und Hahnen, sonst nichts. Ach Amigo, wie willst du unsere Kinden helfen, wenn du unsere Volke nicht verstehst?“
Der gute, arme Santiago! Die Augen öffnete er mir, meinen widerlichen Egoismus hielt er mir wie einen Spiegel des Bösen vor die Augen. Nun musste auch ich weinen.
„Du gut, Santiago“, schluchzte ich, „tú bueno, Santiago. Yo quiero a todos los hombres, todos los perros y todos los gallos de San Pedro. Ich alle lieben!”
Und dann entpuppte Santiago sich als wahrer Bildungsexperte. Er fand tatsächlich einen Ausweg aus der Misere.
„Du kaufe Hunden.“
„Den Hund soll ich kaufen? Warum?“
„Einfach. Mann da drüben gebt Hunden abend auf Straße, Hunden will aber drinnen, Hunden will in Bett. Hunden aber auf Straße. Hunden heult, Hunden bellt. Wenn du Hunden kaufen und haben, Hunden bei dir drinnen, Hunden Bett. Dann Hunden schlafe.“
So einfach war das! Der kluge Santiago! Genial sein Verständnis, tief sein tierpsychologisches Gefühl.
„Komm, Santago, ven! Wir gehen zum dicken Mann!“
Die Verhandlung war hart und erst nach sehr langer Zeit erfolgreich. Der dicke Gelbhundmann führte den möglichen Trennungsschock auf seiner und auf des Hundes Seite ins Treffen, beschwor uns, ihm nicht das Liebste, das er auf dieser Welt hatte, zu nehmen und bat uns, ihm nicht seinen moralischen Unterstützer im täglichen Kampf gegen die Anfeindungen seiner Frau zu entziehen. Schließlich gab er verzweifelt nach. Der Preis war wegen des Trennungsschmerzes, wegen der außerordentlich edlen Rasse des Hundes – er war nach seinen Angaben ein nordhaitianischer Bergwaldhund – und wegen der überragenden Intelligenz des Tieres etwas höher. Fünfunddreißigtausend Pesos oder tausend Dólares.
Nachdem ich bezahlt hatte, sagte der dicke Nachbar „İVete!“ und der Hund ging anstandslos mit mir.
In meinem Appartement sprang der Hund sofort auf das Bett und schlief ein. Mich störten ein wenig sein lehmverkrustetes Fell, seine Flöhe und sein übermäßiger Speichelfluss. Am späten Nachmittag kaufte ich im Laden um die Ecke zwei Kilo Kaldaunen. Der Gelbhund brauchte genau fünf Sekunden, um sich die Köstlichkeit einzuverleiben. Dann rülpste er zufrieden, gab ein wenig Gestank ab, speichelte vor sich hin und schlief auf meinem Bett weiter.
Gegen zehn Uhr abends bereitete ich mir mit einer Decke ein Lager in einer Ecke des Zimmers, legte mich in eine Position, in der der Fußboden nicht zu sehr drückte und schlief ein. Um zehn Uhr zwölf riss mich ein Weltuntergangstrompetenstoß in die Höhe. Mitten auf meinem Bett saß der riesige Gelbhund und heulte seine Eröffnungsarie. Der Chor der Straßenköter brachte die Gegenstimme und dann setzte das Gebell ein.
„Verschwinde!“, schrie ich und hielt ihm die Türe auf, „verschwinde auf der Stelle!“
Und als ich begriff, dass er ja nicht Deutsch verstand, brüllte ich „İVete!, İVete!“
Keine Reaktion. Mein Bett war ihm offensichtlich lieber als die staubige Straße. Die ganze Nacht irrte ich durch die Stadt auf der vergeblichen Suche nach einem ruhigen Platz.
„Hund zurück!“, sagte ich am nächsten Tag zu meinem dicken Nachbarn.
Er bewegte den Zeigefinger wie einen Scheibenwischer.
„İNo, no!“
„Doch!“, schrie ich und packte ihn am Kragen.
In diesem Augenblick kam Santiago vorbei.
„Was du tust?“, rief er entsetzt, „er hombre sincero, Ehrenmann, warum wurgst du ihn?“
„Er soll seinen Köter zurücknehmen! Ich halte den Gestank und das Gebell in meinem Bett nicht aus.“
Santiago beschwichtigte uns beide und nach langen Verhandlungen war der dicke Nachbar schließlich bereit, den Hund zurück zu nehmen. Ich musste ihm dafür nur zehntausend Pesos zahlen.
Den Motoconcho, der mich zum Busbahnhof bringen sollte, bat ich, mit mir vorerst eine Abschiedsrunde zu drehen. Als wir nach zehn Minuten wieder durch die Calle Hernando Figueroa fuhren, sah ich den Gelbund lang ausgestreckt im nachbarlichen Hof im Schatten des Schuppens liegen, den Kopf unter dem Stuhl. Auf dem Stuhl saß der dicke Nachbar, daneben Santiago. Sie waren wohl gerade dabei, sich siebzigtausend Pesos brüderlich zu teilen.
[box type=“info“ style=“rounded“ border=“full“]Über den Autor: Gerhard Dinauer, geboren 1941 in Bruck a.d. Mur, Österreich. Studien der Mathematik und Technischen Mathematik an der Universität in Graz und an der Technischen Universität in Graz. Lehrtätigkeit an verschiedenen Höheren Schulen, an der Technischen Universität in Wien und an der Pädagogischen Akademie in Graz. Mitautor mehrerer Lehrbücher, ab 1990 Hinwendung zur Belletristik. Veröffentlichungen seiner Erzählungen in diversen Literaturzeitschriften und Anthologien.
Gerhard Dinauer lebt in Seiersberg bei Graz.[/box]